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1. Der erschöpfte Engel

Es klingelt an der Tür.

„Wer das wohl sein könnte?“, frage ich mich, mache auf, und ein Engel tritt ein.

Ich bin verwundert. Klopfen Engel nicht an die Fensterscheibe, wenn sie vorbeigeflogen kommen?

Er hat Flügel, ja, sie stehen spitz hinter seinem Rücken hervor, aber zum Fliegen scheint er sie nicht benutzt zu haben. Müde und abgekämpft sieht er aus, als ob er den ganzen Weg vom Himmel bis hierher zu Fuß gegangen sei.

Auch jetzt, da er vor mir steht, breitet er seine Flügel nicht aus, um mir selbstsicher und mutmachend „Fürchte dich nicht!“ zu verkündigen, wie ich es so sehr von ihm gebraucht hätte.

Stattdessen schaut er fast beschämt nach unten, als ob er sich nicht erinnern könne, warum er eigentlich hier sei. Seine Hände sind fest ineinander verknotet, als ob er sich an sich selbst festhalten würde. Ist es denn nicht seine Aufgabe, als Engel anderen, zum Beispiel mir, Halt zu geben?

Ich komme zu dem Schluss, dass ich von diesem Engel wohl nicht allzu viel erwarten kann, seufze resigniert und biete ihm ein Glas Wasser an. Dankbar nimmt er es an und stürzt es in einem Zug hinunter. Er sieht etwas besser aus, scheint aber immer noch orientierungslos zu sein. Ich frage, ob er sich nicht setzen und einen Moment ausruhen möchte. Er nickt stumm. Und so sitzen wir beide schließlich auf meinem Sofa, mit den Schultern aneinandergelehnt, stützen uns gegenseitig ein bisschen und warten. Nach einer Weile ist es an der Zeit, dass der Engel weiterzieht. Ich bringe ihn zur Tür, und kurz bevor er gehen will, scheint ihm wieder eingefallen zu sein, weshalb er hier ist.

Er guckt mich an und sagt: „Fürchte dich nicht! Gott ist mit dir!“, und ich sage: „Kein Ding ist bei Gott unmöglich!“