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20. Driving Home for Christmas

„Scheiß Weihnachten“, kommt es Käthe über die Lippen, während sie die Geschenke aufhebt, die am Boden liegen. Koffer schlängeln sich an ihr vorbei.

„Vorsicht bei der Einfahrt!“, dröhnt es von Weitem.

Jedes Jahr das Gleiche: Alle hetzen wie aufgescheuchte Hühner von A nach B.

Kaufen viel zu teure Sachen für zu viel teures Geld. Die Werbung streut die Botschaft der „Happy X-Mas Family“ in die Welt, und spätestens, wenn das erste Mal „Driving Home for Christmas“ aus den Boxen dröhnt, sinkt Käthes Lust auf Weihnachten gegen null.

Eigentlich sollte sie gestern schon auf dem roten Sofa ihrer Eltern sitzen, doch dann kam noch ein wichtiger Kundentermin rein. Zu Weihnachten muss in ihrer Familie immer alles perfekt sein, und doch endet es meistens in einem großen Krach.

„Hier, das gehört dir, oder?“ Ein buntes Paket wird ihr entgegengehalten.

Vor ihr steht ein Mann in einer viel zu großen Hose, einer dünnen Jacke und zerzausten Haaren. In der einen Hand hält er einen Stapel mit Zeitschriften.

Ein strenger Geruch steigt in Käthes Nase.

„Ganz schöner Trubel hier“, meint er, „dabei sollte man doch gerade heute freudig über den Bahnhof laufen. Übrigens – möchtest ’ne Zeitung kaufen? Kostet 2,20.“

Käthe überkommt plötzlich ein Gedanke. „Wissen Sie was? Hier.“

Sie drückt ihm die Geschenketüte in die Hand und zückt aus ihrem Portemonnaie einen braunen Schein. Völlig perplex schaut er sie an.

„Danke dir, junge Dame!“, hört sie ihn noch von Weitem rufen, als sie die Treppen zum Bahnsteig heruntergeht. Ob er sich Schnaps von dem Geld kauft, überlegt sie.

Immerhin hat er nun einen wunderschönen Kaschmirschal.

Ihre Mutter braucht nicht noch den dritten in ihrer Garderobe.

Das erste Mal seit Wochen spürt sie weihnachtliche Freude in sich aufsteigen.

 

– Deborah Siemermann • Vikarin in der Kirchengemeinde Ohmstede